Page 1 - Willy Blaser - Mabuhay
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Indien (RB21 / 29.12.2002)


Aussichtspunkt


Am späteren Nachmittag wird es schon recht kühl. Das einzige was ich zum anziehen habe ist
eine Regenjacke. Gut kenne ich mich in Darjeeling schon ein wenig aus. Zielstrebig marschiere
ich bei der Strassenkreuzung nach dem Bahnhof rechts die Ladenla Road hinauf. Ich möchte
diesmal etwas weiter oben wohnen, damit ich zum Himalayan Mountaineering Institute (HMI)
weniger weit gehen muss. Ich habe keine Hotelreservation. Ich weiss nur, dass beim
Hauptpostamt nach der Linkskurve eine steile Treppe zwischen den enggedrängten Häusern
hinauf zu einem Hotel führen soll, das angeblich preiswert ist. Mit meinem schweren Rucksack

komme ich mir vor wie beim Aufstieg in ein Hochlager. Alle zwanzig Treppenstufen muss ich
verschnaufen. Eine Tafel weist auf das Hotel Prestige hin. Das Zimmer mit WC/Dusche und TV
kostet 250 Rupien (etwa Fr. 8.-). Es ist zwar klein, aber heimelig.


Wie gewöhnlich bin ich um 7 Uhr wach. Ein Blick aus dem Fenster zeigt, dass der Himmel
bedeckt ist. Mit dem erhofften klaren Wetter ist nichts geworden. Nun gut, so tragisch ist es
nicht, denn diesmal habe ich Zeit, viel Zeit zur Verfügung. Ich werde von hier nicht weggehen,
ehe ich die Berge gesehen habe! Den ersten Tage werde ich daher verbringen um
Aussichtspunkte ausfindig zu machen, von denen ich bei klarem Wetter fotografieren kann.

Ich laufe los. Einfach irgendwo hinauf. Ich nehme die erste Abzweigung, welche links steil
hinauf führt. Nach wenigen Metern bin ich schon ausser Atem. Zahlreiche Hunde laufen
herum. Ein kleiner brauner Keffer scheint mich nicht zu mögen und bellt mich arrogant an.
Jedesmal wenn ich mich umdrehe und ihm tief in die Augen blicke rennt der Feigling davon.
Immer wieder rennt er mir nach und hat sogar die Frechheit mich in die Wade zu beissen.
Dieser Sauhund, warte nur wenn ich dich erwische! Nach zwanzig Minuten Aufstieg endet die
Strasse in einer Sackgasse. Der erste Versuch ein Aussichtspunkt zu finden, scheint
gescheitert. Ein Schild weist den Weg zur Peace Pagoda. Aus reiner Neugier folge ich dem Weg
und werde belohnt. Von der Terrasse der Pagode hat man einen wunderbaren Blick auf die

Stadt. Die Stimmung mit den grossen Wolkengebilden und der im Sonnenlicht sattgrünen
strahlenden Tälern ist herrlich. Nur von den Bergen ist absolut nichts zu sehen. Ich frage mich
langsam ob die überhaupt existieren? Ich begegne einer Gruppe Touristen aus Bangladesh.
Mit unseren „schussbereiten“ Kameras kommen wir ins Gespräch. Die Gruppe ist heute
morgen früh auf dem Tiger Hill gewesen und hat die Gipfel offenbar kurz gesehen. Ab und zu
reist es die Wolkenschicht auf und für wenige Sekunden leuchten Fragmente des

schneeweissen Massivs durch. „Oh, look, Kangchenzunga!“. Als ich ihnen noch mein Zoom
ausleihe, sind sie hell begeistert. Dann werde ich mich wohl morgen auch so früh auf die
„Socken“ machen müssen.







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