Page 4 - Willy Blaser - Mabuhay
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Handelsgewinne verlustig gingen, erlaubte Aurangzeb den Engländern die Rückkehr. Die
europäischen Kaufleute fassten unter ihrem Führer Job Charnock beim kleinen Dorf Kalikata
1690 erneut Fuss und bald florierte das Geschäft wieder. Die rasch wachsende Handelsstadt
zog auch zahlreiche Inder an, die zunächst als Hausgehilfen Beschäftigung fanden, bald aber
auch ihren eigenen, zum Teil sehr lukrativen Handel aufzogen. Der wirtschaftliche Aufschwung

setzte sich auch ungehindert fort, als die East India Company 1858 mit Ernennung Indiens zum
Vizekönigtum ihre politischen Privilegien verlor. Viel schwieriger war für die Kaufleute
Kalkuttas die Rede König Georg V. vom 12. Dezember 1941 zu verkraften, in der er die
Verlegung der Hauptstadt nach Dehli ankündigte. Die Stunde schwerster Prüfung hatte die
Millionenstadt am 16. August 1946 zu bestehen, als die einen separaten Muslim-Staat
forderte Awami-Liga den "Direct Action Day" ausrief. Mit Knüppeln, Steinen und Eisenstangen
bewaffnete Muslime machten Jagd auf Hindus und lösten ein gegenseitiges Massaker aus, das

innerhalb von 24 Stunden über 6'000 Tote forderte. Damit wurde auch der Traum Ghandis von
einem Indien, in dem die beiden grossen Religionsgemeinschaften friedlich zusammenleben
würden, zerschlagen.


Kalkutta, mit 10 Millionen Einwohnern, zweitgrösste Stadt Indiens, gilt heute als einer der
wichtigsten Industrieschwerpunkte Indiens, als Zentrum von Kunst und Kultur und als
Hochburg der Intellektuellen.





Freundliche Menschen


Ich bin gespannt, was wohl heute alles auf mich zukommen wird. Die Sudder Street ist um
acht Uhr morgens relativ verkehrsfrei. Dutzende von Bettlern liegen auf dem Gehsteig und
schlafen. Bei den Handwasserpumpen versammeln sich kleine Gruppen von Leuten um sich
zu waschen oder Wasser in Eimer abzufüllen. Zahlreiche Rikscha- und Taxifahrer säumen die
Strasse. Jeder will dich irgendwohin bringen. Schlepper gibt es wie überall auch, aber diese
sind gegenüber New-Dehli in der Minderzahl und zudem auch harmlos. Auf dem Weg zum
Frühstück ins "Zürich-Restaurant" komme ich an einer kleinen Büste vorbei die an einen sehr

berühmten Bewohner der Sudder Street erinnert. An der Nummer 10 wohnte hier einmal der
grosse Philosoph und Dichter Rabindranath Tagore (1861-1941) der für sein Werk 1913 den
Nobelpreis erhielt. Im "Zürich" erhoffe ich mir mit anderen Reisenden ins Gespräch zu
kommen. Denkste! Mein "Hello" wird nicht einmal erwidert. Dann werde ich eben die Stadt
auf eigene Faust entdecken, das bin ich mir ja längst gewohnt. Anfangs Sudder Street, auf
Seite Maidan-Park, stehen die grossen Gebäude der Heilsarmee und des Indian Museum, das
als Indiens grösstes und bestes Museum gilt. Dort sind auch die Hauslosen auf der Strasse zu

Hause. Beim vorbeimarschieren sind einige Frauen aggressiv und aufsässig und fordern ein
Backschisch für ihr Baby. Seit einigen Tagen ist anscheinend die Müllabfuhr nicht mehr



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